Der 13. September 2022 wird für viele Unternehmen in Deutschland eine Zäsur darstellen. Völlig überraschend und deshalb mit „Wumms“ hat das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass die Arbeitszeiten von Arbeitnehmern zu erfassen wären. Bisher war in vielen Unternehmen ein „Geben und Nehmen“ üblich, soll heißen, ein Mitarbeiter macht mal Überstunden und erhält dafür Ausgleich durch Privilegien und Freiräume. Das hat sich nun erledigt. Was das für Sie und Ihr Unternehmen bedeutet? Im Moment noch weniger, als Sie möglicherweise befürchten.
Wie es dazu kam
Erlauben Sie der Vollständigkeit halber an dieser Stelle einen kurzen Rückgriff. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat im Mai 2019 ein höchstrichterliches Urteil gefällt, das für alle Länder der EU verbindlich ist. Diesem Urteil zufolge sind alle diese Länder verpflichtet, Gesetze einzubringen, aufgrund derer den Arbeit-gebenden Unternehmen vorgeschrieben wird, Systeme zur Erfassung der Arbeitszeiten von Arbeitnehmer einzuführen. Dabei hat der EuGH den Ländern großen Spielraum für die Ausgestaltung dieser Gesetze überlassen. Allerdings hat weder die letzte Regierung unter Merkel, noch die aktuelle Ampelkoalition bisher an der Umsetzung gearbeitet.
Bis heute ging deshalb vor allem von Arbeitgebern die Initiative aus, wenn in einem Unternehmen die elektronische Erfassung der Arbeitszeiten Ihrer Mitarbeiter eingeführt wurde. Dies geschah nicht selten gegen den Widerstand von Gewerkschaften, die hier die Gefahr von Kontrolle und Überwachung sahen. Das Mitwirkungs- oder Abwehrrecht von Arbeitnehmervertretern bezieht sich allerdings nicht auf technische Einrichtungen. Die Entscheidung für oder gegen eine Zeiterfassung lag somit ausschließlich beim Unternehmen.
Was bisher einem Unternehmen initiativ überlassen war, wurde durch das BAG-Urteil zur umfassenden Verpflichtung aller Arbeitgeber in Deutschland. Auslöser des BAG-Urteils ist die Klage eines Betriebsrats einer sozialen Einrichtung in Nordrhein-Westfalen. Dieser wollte höchstrichterlich festgestellt haben, „dass für ihn ein Mitbestimmungsrecht zur initiativen Einführung einer elektronischen Zeiterfassung besteht“. Dabei ging es ihm „um die genaue Erfassung von Arbeitszeit und Überstunden“. Der BAG verneinte den Anspruch auf ein Initiativrecht, stellte jedoch fest, dass Arbeitgeber verpflichtet sind, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen.
In der kurz gehaltenen Pressemitteilung heißt es: "Der Arbeitgeber ist nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 ArbSchG verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Arbeitnehmern geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann."
Es ist nun dem Gesetzgeber überlassen, die Normen und Regeln festzulegen, nach denen Arbeitszeiten erfasst werden müssen. Die letztendliche Ausgestaltung wird sich am EuGH-Urteil vom Mai 2019 orientieren. Dieses Urteil legt die Kriterien „objektiv“ und „einsehbar“ fest, lässt den einzelnen Ländern bei der Festlegung der Regelungen jedoch großen Spielraum. Wie diese Regelungen in Deutschland aussehen werden, bleibt also noch zu sehen. Tatsache ist jedoch, dass jeder Arbeitgeber seit dem 13.09.2022 zur Einführung einer objektiven Zeiterfassung verpflichtet ist.
Was bedeutet dies nun für deutsche Unternehmen?
Die Verpflichtung zur minutiösen Erfassung unterbindet faktisch Mehr-Arbeitszeiten, die bisher „unter den Tisch gefallen“ sind. Dass dies fast immer im Einverständnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geschehen ist – egal. Dass dies betriebsintern oft durch „Peilung über den Daumen“ geregelt werden konnte – auch egal.
Bei manchen Unternehmen wird die elektronische Zeiterfassung sichtbar machen, dass Mitarbeiter eigentlich weniger arbeiten als vereinbart. Bei vielen jedoch wird eine exakte Zeiterfassung dazu führen, dass mehr Stunden auf dem Konto des Mitarbeiters auflaufen werden. Das betrifft im Besonderen dienstleistungsintensive Branchen mit ausgedehnten Betriebszeiten und Mehrschicht-Betriebe.
Laut einer aktuellen Untersuchung durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung wurden in 2021 1,7 Milliarden Überstunden angehäuft. Davon werden knapp 52% nicht bezahlt. Legt man lediglich den gesetzlichen Mindestlohn zugrunde, entsprechen die unbezahlten Überstunden einer Lohnsumme von mehr als 11 Milliarden Euro.
Der globale Personaldienstleister ADP hat 10.000 Arbeitnehmer zu ihrem Arbeitsalltag befragen lassen. Dazu gehörten Fragen zu geleisteten Überstunden. Diese schwanken zwischen den einzelnen Bundesländern erheblich. Im Durchschnitt leisteten Arbeitnehmer pro Woche 5,24 Stunden an Mehrarbeit.
Legt man diesen Zahlen zugrunde, dass etwa 52% der Überstunden unerkannt „unter den Tisch gefallen“ sind, heißt dies, dass im Durchschnitt 6,8% der monatlich geleisteten Arbeitszeit nicht bezahlt wurden.
Was dies alles für Sie als Unternehmer unmittelbar bedeutet
Um es salopp zu sagen: Zumindest im Augenblick nicht viel und es gibt keinen Grund zur Panik. Sie sollten sich auch von niemandem drängen lassen, sofortige Entscheidungen zu treffen.
Seit dem 13. September treibt das das BAG-Urteil nun den Gesetzgeber vor sich her. Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP heißt es noch sehr vage: „Im Dialog mit den Sozialpartnern prüfen wir, welchen Anpassungsbedarf wir angesichts der Rechtsprechung des EuGH zum Arbeitszeitrecht sehen. Dabei müssen flexible Arbeitszeitmodelle (z.B. Vertrauensarbeitszeit) weiterhin möglich sein.“
Die Ampelkoalition wird sich nun daranmachen, Änderungen des Arbeitszeitgesetzes zu prüfen. Dies ist auch notwendig, da dieses Gesetz über 30 Jahre alt ist und Regelungen vorsieht, die in Zeiten digitaler Anwendungen nicht mehr angemessen sind. Es bleibt also erst einmal zu sehen, welche Normen und Regeln in Zukunft zur Geltung kommen werden.
Im Moment gibt es einen Richter, aber noch keine Kläger. Und es gibt auch noch niemanden, der abseits eines Gerichtsprozesses Kontrollen durchführen würde. Diese Situation ändert sich jedoch dann, wenn Ihre Mitarbeiter eine Stempeluhr einführen wollen. Denn dann müssen Sie eine Stempeluhr einführen.
Und sollten Sie sich mit einem Mitarbeiter vor Gericht treffen und dieser Arbeitsstunden, Urlaub oder sonstige Ansprüche einfordern, die irgendetwas mit „Zeit“ zu tun haben, wären Sie wahrscheinlich froh, wenn Sie eine Arbeitszeitdokumentation hätten, die nicht angreifbar ist.
In der Zwischenzeit jedoch und solange das nicht passiert, können Sie weiterhin ruhig durchatmen. Die zukünftigen Gesetze, Regeln und Normen aber werden kommen und wenn sie dann da sind, sollten Sie gewappnet sein. Idealerweise nutzen Sie die verbleibende Zeit, um sich einen gründlichen Überblick zu den geeigneten Systemen zu verschaffen und rechtzeitig neue Routinen in Ihrem Betrieb einzuüben. Denn wenn es schnell gehen muss, geht es oft nicht so gut wie es könnte.
Um nochmals auf die 5,24 Überstunden zurückzukommen, die pro Woche durchschnittlich anfallen: Das klingt nach viel und das ist viel, aber – und das ist die gute Nachricht: Dies lässt sich auch nach Einführung einer Arbeitszeiterfassung beherrschen.
Wie bei jedem Problem gibt es mehrere Lösungen, wobei nicht alle gleich gut sind. Welche Maßnahmen in Zukunft ergriffen werden sollten, um den noch kommenden Gesetzesansprüchen gerecht zu werden und welche Methoden und „Werkzeuge“ hierfür am besten geeignet sind, erfahren Sie in unserem nächsten Artikel. Bis dahin!